Lieber xy,

auch ich habe mich immer viel wohler in einem kleinen Kreis von Gleichgesinnten gefuehlt, am besten mit nur einer Person.
Was mir seit mindestens 25 Jahren unangenehm auffaellt, ist dieses staendig ins Wort fallen und nicht zuhoeren koennen.
WARUM sind alle so in Eile, wenn man sich mal gemuetlich treffen moechte?
Vor allem bei Frauen stoert es mich ganz gewaltig, dass sie mich nicht zu Wort kommen lassen und einfach mit lauterer Stimme weiterquasseln.
Bis ich dann endlich eine Gespraechspause erwische und auch etwas dazu beitragen koennte, hat sich das Gespraech meist schon einem anderen Thema zugewandt.

Deshalb schreibe ich auch lieber e-mails mit einigen wenigen Freunden (und wenn ich etwas Witziges von mir geben will, dann tippe ich halt ein smiley :)).

Das hat mich auch immer bei meinem Vater ganz wuetend gemacht, wenn ich argumentiert habe und er mir gar nicht wirklich zuhoerte, sondern ganz offensichtlich schon ueber das nachdachte, was er als naechstes sagen wollte (was oft die fuenfte Variante des bereits von ihm Gesagten war, nur halt mit neuen Worten).

Ich bin auch in groesseren Gruppen eher schuechtern, neige zum rot werden.
Umso mehr war mein Mann beeindruckt, als wir 2010 in Pennsylvania in ein Kino gingen, der Film riss und uns ein grosser Teil des Films nicht gezeigt werden konnte.
Ich stand auf (es war noch totenstill nach dem Ende des Nachspanns) und sagte laut und deutlich, dass ich mir das Geld fuer die Kinokarte jetzt vom Manager erstatten lasse. Und alle folgten uns brav hinterher. :)
Mein Mann hatte mich bis dahin immer zurueckhaltend in Gruppen erlebt, aber hier wusste ich, dass mir ausnahmsweise mal alle zuhoeren und moeglicherweise sogar dasselbe denken, naemlich sich das Geld erstatten zu lassen.

Wenn mein roter Faden unterbrochen wird, dann habe ich oft schon vergessen, wo ich aufgehoert habe mit der Geschichte (einer der Nachteile, wenn man aelter wird :)).

Viele Gruesse,

Chrissie



xy schrieb:
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> Liebe Chrissie,
>
> vielen Dank für Deine interessanten
> Ausführungen!
>
> Dadurch wird mir erst richtig bewusst, dass es
> Sinn machen kann, zwischen den Begriffen
> "Selbstbewusstsein" und "starker Persönlichkeit"
> zu unterscheiden. Man kann in der Tat auch mit
> geringem Selbstbewusstsein eine "starke
> Persönlichkeit" sein. Auch kann emotionale
> Sensibilität durchaus ein Zeichen von Stärke
> sein.
>
> Das Phänomen, das Du beschreibst, wenn Du Dich
> innerhalb größerer Gruppen aufhältst, kenne ich
> aus eigener Erfahrung sehr gut. Ich möchte immer
> erst alles abwägen, bevor ich mich äußere. In
> der zwischenmenschlichen Kommunikation haben aber
> nur die wenigsten Leute Zeit dafür. Sie plappern
> meistens einfach so drauf los. Daher fällt es mir
> oft schwer, bei einem realen Gespräch mit
> mehreren Menschen überhaupt zu Wort zu kommen.
> Denn wenn ich meine Gedanken erst einmal so
> sortiert habe, dass ich auch selbst der Ansicht
> bin, einen qualifizierten Beitrag abliefern zu
> können, ist das Gespräch bereits an einer ganz
> anderen Stelle angekommen, d.h. ich erwische den
> "roten Faden" schon gar nicht mehr.
>
> In der schriftlichen Kommunikation wie hier im
> Forum ist das anders. Da habe ich diese Zeit,
> meine Beiträge so zu verfassen, das sie auch
> meinen eigenen Ansprüchen gerecht werden und kann
> sie entsprechend der Baumstruktur platzieren. Das
> wäre so bei einer real ablaufenden Diskussion mit
> mehreren Menschen nicht möglich. Da müsste ich
> immer darum bitten, dass ich mich doch bitte auch
> mal zu Wort melden und meine Argumente einbringen
> darf. Persönliche Gespräche sind daher
> wesentlich angenehmer für mich, wenn möglichst
> wenige Personen daran beteiligt sind.
>
> Der Nachteil bei der schriftlichen Kommunikation
> ist allerdings, dass ich den Tonfall der
> Verfasser/innen nicht hören kann. Dadurch fällt
> es mir manchmal schwerer zu beurteilen, ob eine
> Äußerung als Witz oder Ironie aufzufassen ist
> oder ob mich jemand wirklich beleidigen bzw.
> scharf angreifen möchte.
>
> Dass Du diplomatische Umgangsformen in der
> heutigen Zeit sehr vermisst, kann ich allerdings
> sehr gut nachempfinden. Das geht mir ganz genauso
> (siehe hierzu meinen Beitrag zur heutigen
> Diskussionskultur).
>
> Viele Grüße
> xy