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Re: Typisch deutsch, dies und das
Das Autobahn-Ding bringt mich zu einem Punkt, den ich hier bisher noch nicht erwähnt sehe.
Über die hohen Geschwindigkeiten auf der Autobahn lässt sich trefflich streiten, aber sie wären ohne disziplinierte Fahrer, die sich mehr an die Verkehrsregeln halten, eigentlich nicht möglich. Im Vergleich zu einigen anderen Ländern halte ich den deutschen Durchschnitts-Autofahrer für disziplinierter, als man das in vielen Ländern annehmen kann. Hupen, Beten, Abbiegen ist etwas, was sich in unserem Land deutlich weniger Leute erlauben, und das ist auch gut so. Das Auto als Lieblingsspielzeug und eine Art Fetisch würde ich für Deutschland auch unterschreiben. Allerdings merkt man schon, dass diese Sicht bei jüngeren Menschen weniger Bedeutung hat. Die gucken sich dann eher Videos von rappenden Prahlhänsen mit teuren Luxuskarossen an, die meistens ohnehin gemietet sind. Hauptsache, die Illusion steht. Dann ein anderer Aspekt: Polizei wird tatsächlich oft wegen jedem "Pillepup" gerufen. Das entspricht aber auch einem Rechtsverständnis, indem man weitestgehend noch darauf vertraut, dass die Staatsmacht in ihren ausführenden Organen halbwegs gerecht und nicht bestechlich ist. Ein Grundvertrauen, dass es mit rechten Dingen zugeht, ist vielleicht noch etwas intakter, als das in anderen Ländern der Fall sein mag. Deshalb ruft man die Polizei als "Schiedsrichter" und "Kümmerer" an, wo man das aus gegebenen Anlass in anderen Ländern eher "unter sich" regeln würde. Ich halte das deshalb für ein Spannungsfeld zwischen dem Vertrauen in den Rechtsstaat und seinen Organen auf der einen Seite, aber Selbstjustiz und mangelndes Vertrauen auf der anderen - auch wenn es sich bei Banalitäten manchmal etwas merkwürdig äußern mag. In den letzten Jahren muss ich allerdings zunehmend feststellen, dass Leute Dinge wieder "unter sich" regeln, und damit einher schwindet leider auch das Vertrauen in den Rechtsstaat, was ich eigentlich für noch gefährlicher halte, als das schwindende Vertrauen in die Polizei. Da bin ich der Auffassung, dass sich zu viele Leute in rechtsfreien Räumen wähnen, die es eigentlich nicht gibt. Meiner Meinung nach ist das eines der drängenden Probleme unserer Zeit, die noch zu lösen wären. Spinner und Aluhutträger wie die "Reichsbürger" sind da nur merkwürdige Auswüchse eines viel umfassenderen Problems. Und um den noch größeren Bogen zu spannen, sehe ich auch das Grundvertrauen in die demokratischen Grundprinzipien schwinden. Die nächste Bundestagswahl erscheint mir da wirklich fundamental entscheidend, ob ein signifikanter Teil der Gesellschaft überhaupt noch Vertrauen in die Demokratie hat. Im Vergleich zur Situation in einigen anderen Ländern sind das dann fast schon ein "Luxusproblem", denn die sind im negativen Sinne schon weiter, oder aber es bestand nie dieses hohe Maß an Vertrauen in Rechtsstaatlichkeit und demokratische Prinzipien. Typisch Deutsch ist dem Klischee nach eigentlich auch ein gewisses Maß an Obrigkeitshörigkeit, die man den Leuten nachsagt. Auch wenn das für ältere Generationen nicht von der Hand zu weisen ist, in deren Köpfen sehr oft noch die Vorstellung verbunden war, dass mit Uniformen automatisch Autorität verbunden sei, würde ich schon sagen, dass sich hier etwas verändert hat - selbst wenn es den "Hauptmann von Köpenick" in ähnlicher Form auch heute noch geben könnte - nur würde der heute weniger in Uniform, sondern im etwas wertigeren Maßanzug stecken. Wenn die Obrigkeitshörigkeit einer gewählten Autorität aufgrund ihrer in demokratischen Verhältnissen zugeteilten Aufgabe gewichen ist, dann finde ich das erst einmal begrüßenswert. Vielleicht ist das angesichts der Extreme in der Geschichte ein weiteres deutsches Spezifikum, eine solche Entwicklung durchzumachen. Sorgen macht mir dann eher eine Entwicklung, die über die hier geschilderte Entwicklung hinaus geht, denn es scheint jetzt schon bei einigen Zeitgenossen nicht das Beste in ihnen zu fördern, sondern eher den niederen Instinkten zu genügen. Vielleicht sind aber all diese Gedanken, die spezielle Auseinandersetzung mit der phasenweise nicht gerade ruhmreichen Vergangenheit, die dann selbst in Bereiche vordringt, in denen man es nicht erahnen würde, irgendwie auch schon wieder "typisch Deutsch". In Deutschland kommt man jedenfalls nicht ungeschoren davon, wenn man sich hinstellt und erzählt, warum wir heute "die Geilsten" sind, weil das in einem einem Narrativ der großen historischen Erfolgsstory begründet wäre, die im jetzigen Zeitpunkt großen Erfolgs kulminieren müsse. Das kauft einem keiner ab, und das ist vielleicht auch gut so, selbst wenn es zweifelsohne auch seine negativen Begleiterscheinungen hat. Bei allen Überlegungen hier muss ich dir, faxe61 allerdings zustimmen - die regionalen Unterschiede in der Mentalität und Alltagskultur sind nicht nur in Deutschland allein schon so signifikant, dass es manchmal etwas schwierig ist, einen gemeinsamen Kulturkonsens herauszumeißeln. Gleiches gilt auch für soziokulturelle Schichten und ihre spezifischen Unterschiede. Die Realität der Existenz ist vielleicht für alle Menschen gleich, die Lebenswirklichkeit eines Hartz-IV-Empfängers unterscheidet sich aber entschieden von der des Millionärs. Hier würde ich dann innerhalb der "Klassen" oder "Schichten" nationenübergreifend mehr Gemeinsamkeiten annehmen, als sie mit allen Mitbürgern einer Nation überhaupt möglich sind. Hier liegt es für mich übrigens wieder nahe, den erwähnten "Neid" in unserer Gesellschaft aufzugreifen. Den mag es auch geben, aber ich denke, dass hier doch einige Dinge missinterpretiert werden. Ich bin eher der Auffassung, dass es in unserem Land mehr Leute gibt, die ihre Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaftsordnung im sozialen Ausgleich verwirklicht sehen, der die Extreme von extremer Armut und extremen Wohlstand ausgleicht und dämpft, um eine bessere Gesellschaft für möglichst viele Menschen zu schaffen. Tatsächlich würde ich behaupten, dass die wenigsten Leute neidisch sind, wenn jemand einen 200.000€ Ferrari fährt. Es bleibt meistens nur der schale Beigeschmack des Verdachts, dass sich Leute diesen per Ausbeutung auf dem Rücken derer verdient haben, die heute auch in unserem Land nicht mehr den Dreck unterm Nagel verdienen, um ihre grundsätzliche Existenz überhaupt sichern zu können. Das ist keine Neiddebatte, sondern eigentlich eine Gerechtigkeitsdebatte, und die beantwortet man vielleicht aufgrund sozialstaatlicher, sozialistischer und religiös-sozialer Ideen in Deutschland anders, als in vielen anderen Ländern. Auch wenn es in den letzten Jahren den ganzen neoliberalen Kram, Vorstellungen von einem unregulierten Kapitalismus und liberale Ideen im Sinne des Nachtwächterstaates auch bei uns gab, dürfte im Vergleich zu vielen anderen Ländern der Kern an Leuten noch deutlich größer sein, die den Sozialstaat, sozialen Ausgleich und so etwas wie sozialer Verantwortung und Solidarität, die man staatlich per Gesetz auch durchaus einfordern kann, immer noch vertreten. Dabei ist es egal, wer zuerst da war, Leute speisen ihre Ideen aus verschiedenen Quellen sozialer Ideen, von Betonkommunisten, über Sozialdemokraten oder Vertretern eines demokratischen Sozialismus, bis hin zu religiösen Menschen, die ihre Vorstellungen aus einer spezifischen religiösen Soziallehre ziehen. Die Unterschiede sind in dieser Hinsicht vielleicht nicht einmal innerhalb Europas so wahnsinnig groß, aber ich denke schon, dass sie sich im Vergleich zu vielen Ländern auf anderen Kontinenten zeigen - allen voran auch die USA, die den meisten Leuten am vertrautesten erscheinen dürften, weil wir kulturell so stark von ihnen beeinflusst sind. Meiner Meinung nach wird hier der Kontrast offensichtlich, denn für unsere politischen Verhältnisse und Grundgegebenheiten übersetzt halte ich ein deutsches Äquivalent für Trump als Kanzler dann doch für äußerst unwahrscheinlich. Irgendwie ist das alles dann "typisch deutsch", überlagert sich dann aber auch mit einer größer fassbaren europäischen Identität. Solche Gedanken zu fassen, finde ich erst einmal naheliegend und irgendwie auch drängend, weil einem die Unterschiede immer wieder vor Augen gehalten werden. Denkt man aber über Teilaspekte genauer nach, dann wird man immer feststellen müssen, dass die Grenzen der Identität gar nicht immer so sicher sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Nach meiner Meinung muss man deshalb immer aufpassen, ob man nicht auch einem weit verbreiteten Klischee aufsitzen kann, das sich irgendwann einfach verselbstständigt hat. Was die hier aufgegriffene deutsche Bürokratie betrifft - die scheint es in ähnlich irrem Ausmaß auch in anderen Ländern zu geben. Oftmals sind es aber auch einfach nur die Freiräume, die man sich einfach herausnimmt. In Deutschland unmöglich, aber in einigen Ländern, die man durchaus als "zivilisiert" bezeichnen würde, nimmt es der Deutsche vielleicht auf sich, für die Farbe seiner Dachschindeln in der Bürokratie von Pontius nach Pillatus durchgereicht zu werden. In anderen Ländern hingegen reckt man einmal gepflegt den Finger Richtung Staat und macht einfach. Langer Text, aber ich hoffe, er war wenigstens kurzweilig genug geschrieben^^ 1-mal bearbeitet. Zuletzt am 21.03.17 12:33. Dieses Thema wurde beendet. Eine Antwort ist daher nicht möglich.
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