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Re: Verdorbene Kindheitserinnerungen
Hallo Fernsehempfaenger,
da werden Erinnerungen wach! Ich bin Jahrgang 1955. Da haben sich die Erwachsenen (Freundeskreis meiner Eltern und Verwandte, die wir in der Ex-DDR bei Leipzig besucht hatten oder die uns besuchten) noch sehr oft ueber den Krieg unterhalten. Meine Oma muetterlicherseits verlor ihren Mann auf der Flucht von Polen nach Westdeutschland (Amberg, Bayern) in Thueringen im Maerz/April 1945 und kam nie darueber hinweg. Selbst 1965 kamen ihr noch Traenen, wenn sie mir von ihm erzaehlte. Dank ihr und auch dank meiner Eltern und Grosseltern (alles Fluechtlinge aus Schlesien bzw. Polen) wuchs ich mit einem gesunden Hass auf Hitler auf :)! Dennoch interessiert mich auch heute noch alles, was mit dem WW II zu tun hat. Was mich aber viel mehr alsdie Kriegserlebnisse meiner Oma muetterlicherseits traumatisierte, war ihre Gruener Star (Glaukom) Operation. Anstatt ihr eine Vollnarkose in der Augenklinik in Muenchen zu geben, bekam sie eine Spritze in den Bindehautsack zwishen Bindehaut und Auge und von dem Schrecken erholte sie sich nie wieder (und ich auch nicht). Noch heute ist eine Augen-OP ohne Vollnarkose fuer mich das Schlimmste, das ich mir ueberhaupt vorstellen kann (o.k., von Amputation mal abgesehen). Bisher ist es mir erspart geblieben...aber die Angst ist da, bei jedem Augenarztbesuch. Ich sah als Kind zu Beginn der 60er Jahre viele Maenner, denen entweder ein Bein oder ein Arm fehlte oder die im Krieg ein Auge verloren hatten und daher eine Augenklappe trugen (kuenstliche Augen gab es erst irgendwann spaeter in den 60er Jahren). Der Vater meiner besten Freundin hatte ein falsches Auge. Im Rollstuhl fuhr fast niemand (im Gegensatz zu heute). Aber Kruecken bei Kindern sah man hin und wieder (Polio). Zahnspangen konnte man nachts tragen und tagsueber rausnehmen (in den USA trug man sie als Teenager staendig, bis sie ganz entfernt wurden). Als wir 1964 vom Bodensee nach Braunaschweig zogen, wo mein Vater im Krankenhaus arbeitete, besuchten wir ihn oft am Wochenende, wenn er Dienst hatte. Ich lehnte am offenen Fenster des Arztzimmers und beobachtete die Leute unten auf der Holwedestrasse. Hin und wieder gingen Samstagnachmittags junge Frauen am Krankenhaus vorbei in Maenteln, hochhackigen Schuhen und Seidenstruempfen, mit kurzem, blondiertem und toupiertem Haar. Dann kamen die Beatles und alle liessen sich die Haare lang wachsen. Ich trug Marlene Dietrich Hosen, Midi und Mini Mode kamen und gingen. Silberblauer Lidschatten von Revlon und Max Factor war "in". Courrèges war mein Lieblingsparfumhersteller (den Namen des parfums habe ich allerdings vergessen). Dior hatte so tolle Parfumnamen wie Diorella, Miss Dior, Diorissimo etc. Ab 14 trug ich ueberwiegend Blue Jeans und Rippchenpullis in grellen Neon-Farben. Dazu Wildlederumhaengetaschen mit Fransen und Jane Fonda's Haarschnitt aus ihrem Film "Klute". In Braunschweig gab es einen Barbier namens Kecko, der den Klute-Haarschnitt beherrschte, viele meiner Klassenkameradinnen und ich gingen regelmaessig zu Kecko. Wir zogen 1964 vom Bodensee nach Braunschweig im Norden. Damals gab es noch viele Ruinengrundstuecke in BS, fast 20 Jahre nach dem WW II. Muenchen war noch schlimmer zerbombt gewesen. Als wir noch in Braunschweig in der Georg-Westermann-Allee am Prinzenpark wohnten (ehe wir unser eigenes, winziges 100 qm3 grosses Endreihenhaeuschen mit handtuchgrossem Garten am Stadtrand kauften, wo der Bus nur einmal pro Stunde fuhr und ich schon um 5 Uhr aufstehen musste, um gegen 7 Uhr in der Schule zu sein, die um 7:40 Uhr los ging, und in dem mein Kinderzimmer etwa 1/8 so gross war wie vorher zur Miete in der alten Villa am Prinzenpark), hatten wir zwei Nachbarinnen, eine Tochter mit ihrer Mutter. Der Sohn unser Vermieterin erzaehlte mir, dass die Tochter Fotomodell gewesen sei und soviel Geld verdient haette, dass sie und ihre Mutter sich zur Ruhe setzen konnten. Gleich um die Ecke an der Georg-Westermann-Allee & Wilhelm-Raabe Strasse gab es einen Tante Emma Laden, der zwei aeltlichen Schwestern (beide trugen Brillen) gehoerte, die sich gegenseitig mit "Hase" anredeten. Das muss wohl so ein typisch Braunschweiger Kosename gewesen sein :). Supermaerkte gab es damals nur wenige, ich erinnere mich an Edeka. Braunschweig hatte (seit mindestens) 1966 einen ALDI Laden. In der Regel ging man zum Tante Emma Laden, zum Milchladen, Schlachter, Fischgeschaeft, Blumenladen, Zeitschriftenkiosk und Baecker, um alles Lebenswichtige einzukaufen. Es wurde in Tueten nach Hause geschleppt. Meine Mutter fuhr mit dem Rad einkaufen. Am Samstagnachmittag, wenn alle Laeden geschlossen waren, gingen uns regelmaessig das Toilettenpapier, Milch, Wasser und Getraenke aus. Schliesslich begann mein Vater, einmal in der Woche mit meiner Mutter zum Supermarkt zu fahren, damit wir am Wochenende nicht "auf dem Trockenen" sassen. Italienische Eiscafés und Konditoreien waren damals sehr populaer, Grosstanten und Omas nahmen mich dort oft hin. Sie zogen Torten mit Alkohol vor (Schwarzwaelder Kirschtorte), ich mochte hingegen alles mit Marzipan, Nusskuchen und Schokoladenkuchen. Im Gegensatz zu amerikanischen Kindern verdiente man sich in Germany kein Geld zum Taschengeld hinzu, und eine Taschengeldaufbesserung gab es praktisch nie (ich erinnere mich an ein oder zwei Erhoehungen zwischen 1964 und 1974...als ich ins Gymnasium ging, bekam ich mit 25 DM/Monat weniger Taschengeld als die meisten meiner Klassenkameradinnen). Die Tochter eines erfolgreichen Immobilienmaklers und die Tochter eines Autohausbesitzers gingen mit mir in die Klasse, aber ich war die erste, die ins Internat kam. Leider wurde mir ein Jahr Schueleraustausch in den USA verweigert...das verzieh ich meinen Eltern nie (es war kein finanzielles Problem fuer sie). Meine Mutter wurde berufstaetig als Dolmetscherin als ich 13 oder 14 war - endlich hatte ich mehr Freiheit und wurde zum Schluesselkind :)!!! Nun begannen meine regelmaessigen Kinobesuche (ich liess den Nachmittagssport ausfallen). Das half mir spaeter im Beruf enorm. Meine Eltern waren beide Intellektuelle und Homosexualitaet war fuer sie etwas Normales, das akzeptiert wurde. Ein Studienfreund meiner Mutter war "anders herum". Mein Vater erzaehlte mir, dass es in Paris viele multi-kulturelle Paare gaebe, weil es dort akzeptiert wurde im Gegensatz zu den prueden und vorurteilsbeladenen Amis. In den fruehen 60er Jahren ging es in Germany aber auch noch recht pruede zu und Vorurteile waren die Regel, nicht etwa die Ausnahme. Erwachsene waren ausgesprochen Amerika-feindlich eingestellt. Hatten Angst vor einer Amerikanisierung Deutschlands. Oh well... Ich wuchs mit den ARD Nachrichten um 20:15 Uhr und taeglichen Vietnamberichten auf. Demos, Entfuehrunge, Baader Meinhoff und Bombenattentate gehoerten zum BRD-Alltag. Als meine Oma noch in Schwabing (Muenchen) lebte, vermietete sie ein Zimmer ihrer Eigentumswohnung (vom Lastenausgleich) an eine Studentin aus Hannover, Doris M.. Doris feierte jeden Freitag eine Fête in ihrem Zimmer oder nahm mich (damals 14) zu einer Fête bei Studienkollegen, die Hasch rauchten, mit. Oder wir gingen ins Citta 2000 in der Naehe des Englischen Gartens. Dort suchte ich im Sommer 1972 nach David Cassidy's erster LP (ich kaufte mir im internationalen Zeitschriftenladen am Bohlweg in Braunschweig regelmaessig amerikan., britische und franzoesische Jugenzeitschriften, wo Cassidy schon ein Jahr eher beruehmt war als in der BRD). Das mit den Fêten ging nur waehrend der Sommerferien, wenn meine ahnungslosen Eltern mich bei meiner Oma in Muenchen absetzten, um zu zweit ans Mittelmeer zu fahren :). An Crème 21 erinnere ich mich auch noch, das war meine erste Body Lotion. Ich hasste Delial, die schlecht riechende Sonnenschutzmilch, die unsere ganze Familie verwenden musste, weil mein Vater sie von der Pharmaindustrie in rauhen Mengen umsonst erhielt :(. Eine meiner ersten Anschaffungen von der Ausbildungsverguetung zu Beginn der Ausbildung bei der Stadt Braunschweig (1975) war eine Flasche Sonnenmilch von Ambre Solaire. Wie himmlisch die duftete im Vergleich zu Delial! Ich habe nie wieder Delial verwendet :) :) :). Frech war ich in der Schule eigentlich nicht, aber ich war eine zeitlang der Klassenclown und brachte viele meiner Klassenkameradinnen zum Lachen (auch ein paar der Lehrer :)). Vor Klassenarbeiten schrieben wir uns Geschichtszahlen oder mathematische Formeln auf die Handinnenflaechen oder auf ein Stueck Papier, das an den Struempfen befestigt wurde (Strumpfhosen kamen erst ein paar Jahre spaeter in Mode). Schiffe versenken wurde oft in den ausgefallenen Stunden gespielt, um die Zeit totzuschlagen. In den Pausen disku(t)tierte man die Fernsehepisoden des Vortages und diejenigen, die unter der Woche sogar abends um 21 Uhr fernsehen durften, wurden sooo beneidet! Aber noch gab es keine Kinder, die einen eigenen Fernseher im Kinderzimmer hatten. Ich glaube, das kam erst in den 80er Jahren auf. Ja, gepruegelt wurde in meiner Familie selbst bei unwesentlichen Kleinigkeiten oft, trotz intellektuellem Vater/Mutter (selbst als ich 19 war, gab es noch Pruegel...ich machte 10 Kreuze als am 1.1.75 ENDLICH das Volljaehrigkeitsalter auf 18 heruntergesetzt wurde und zog aus). Die Kriegskindergeneration kannte es leider nicht anders, auch wenn mir gegenueber munter behauptet wurde, dass sie zu Hause nicht verpruegelt wurden, weil sie immer brav gewesen sind :). Ich lese heute noch Buecher zu dem Thema, um meinen Eltern endlich ihre unsinnigen Pruegel irgendwie zu vergeben, die meine Kindheit und Jugend ueberschatteten, allerdings bisher ohne Erfolg... Braunschweig hatte auch eine "solche" Strasse, die Bruchstrasse, auch Via Fractura genannt. Das mit den Hausbesetzern bekam ich in den ARD Nachrichten mit. Von Baumhaeusern konnte ich nur traeumen bzw. in Kinderbuechern darueber lesen (wie in Mary Bard's "Endlich eine Freundin"). Ich hatte ein Transistorradio und sparte jahrelang auf ein Tonband, das ich mit 14 Jahren endlich bekam. Mit einem angeschlossenen Mikro nahm ich die alten Filme "Top Hat" (im Original auf N III), "Daddy Langbein" und viele Erkennungsmelodien meiner Lieblingsserien auf. War wirklich schoen und inspirierend, Deine Jugenderinnerungen zu lesen! Gruss, Chrissie Fernsehempfänger schrieb: ------------------------------------------------------- > Ich sehe das ähnlich. > > Schlimm war natürlich diese Nähe zum Krieg, als > ich ganz klein war haben mir ältere Leute über > ihre Erlebnisse im Krieg erzählt, vermutlich gab > es da auch niemand anderen in der Nähe, der > zugehört hätte; Bombennächte, Leichenberge. Als > Kind habe ich das aber abstrahieren können, sah > ja noch überall Ruinen und halb- zerstörte > Häuser in der Stadt, wusste dass das stimmte. > Eine Nachbarin, die aus Ostpreußen geflohen war, > schreckliche Dinge erlebt hatte, hat mit mir alle > Tonnen, die waren damals noch aus Metall, im > Innenhof bunt angemalt, manchmal haben wir > Regenschirme aufgespannt, hatten die Füsse in > einem Bottich und sie hat Kinderlieder mit mir > gesungen. Unsere Nachbarn waren u.a. ein schwuler > Opernsänger und sein lustiger Freund. > Der Mann war mir etwas unheimlich, da er oft > wahnsinnige Angst hatte, da sind Kinder sensibel, > spüren das. Er hat seine Türe immer nur einen > Spalt geöffnet, klar, der war im 3. Reich ein > junger Mann gewesen, wer weiss was er erlebt > hatte. Als ich meine Mutter fragte, warum da zwei > Männer zusammen lebten meinte sie, das die sich > eben gern hätten, und das war kurz nach 1969. > Meine Mutter war eine moderne, aufgeschlossene > Frau. > > Eine junge Studentin mochte mich total und ich > verbrachte viel Zeit mit Ihr und ihrem etwas > mürrischen Hippie Freund, der Drogen nahm. > Freitags gab es immer ein Comic Heft nach meiner > Wahl, da stand ich dann ganz fachmännisch im > Kiosk und wählte sorgsam aus. Einmal waren meine > Eltern bei Nachbarn und ich und die etwas ältere > Tochter gingen ins Schlafzimmer und wir haben uns > komplett mit Creme 21 eingeschmiert, bis wir > merkten, das wir total eingesaut waren, wie das > Bett eben auch:O)). > Die Mode war bunt und man durfte sich auch mal > schmutzig machen. Mädchen trugen sehr kurze > Röcke, die aber eher niedlich, als sexy waren. > Ich trug eine Jeansjacke, eine gelbe Hose mit > braunen Aufschlägen und orange/ weisse Schuhe, > sieht gar nicht schlecht aus, echt! > Ich glaube, wir waren manchmal wirklich zu frech > und in meiner Klasse gab es auch Kinder aus > Millionärsfamilien, ob das heute noch so ist? > > Schlimm war das es bürgerliche Eltern gab die > ihre Kinder wirklich jeden Tag schlugen, auch die > Mädchen. > Ja, die Großstadt, da gab es Huren auf der > Strasse, Hausbesetzer und große Gegensätze. > Nach der Schule erst einmal Marmeladenbrote essen > und Comics lesen, das konnte ich stundenlang. Wenn > die Schule ausfiel, habe ich mit Elektromotoren > und Lego irgendwas zusammengebaut, viel gelesen, > wir haben Baumhäuser gebaut, und ich bin > häufiger mit dem Fahrrad auf die Schnauze > gefallen, wie alle anderen auch, hatte oft ein > Kofferradio im Gepäck.... In diesem Forum dürfen leider nur registrierte Teilnehmer schreiben.
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