Re: neue TV-Formate 1960 - 1973
geschrieben von:
Kaschi, 10.03.23 17:27 |
Wilkie schrieb:
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> ... aber man
> sollte bedenken, dass in erster Linie die Musik an
> sich polarisiert hat, nicht das Sendeformat.
Aaaber: genau diese Musik fand doch im Fernsehen bis 1965 überhaupt nicht statt! Und dann traute sich offenbar nur Radio Bremen zu, Leckebusch und Co. das fürs Erste Programm machen zu lassen. Auch die Art und Weise, wie die Sendungen (auch des Musikladens später) konzipiert waren, sprengte den Rahmen des bis dato Bekannten.
Dazu die Erinnerungen eines Kameramanns ("Peter S.", Quelle: "40 Jahre Beat Club" von Uwe Nielsen). "... Wir mussten uns an einen völlig anderen Arbeitsstil gewöhnen. Vorher war es so, dass alles präzise sein musste, geprobt, auf Anschluss - und hier galt jetzt: freie Jagd dem Tüchtigen! Für die vier Kameras teilten wir das Studio in vier Segmente auf, und in Deinem Segment konntest du dich frei bewegen. Was wir von der Kamera dann angeboten haben, war für Mike Material für seine Tricktechnik, die damals in Deutschland sonst überhaupt nicht üblich war."
Und nochmal Mike L., gleiche Quelle: "Wenn ich Fernsehen mache, muss ich erst einmal versuchen, die anderen genauso 'high' zu kriegen wie mich selbst. Das heißt: Ich muss meine Empfindungen in Worte umsetzen, um die Kameras zu dirigieren. Das Ergebnis wird dann am Mischpult optisch ausformuliert. Ich habe lange dazu gebraucht, um den Ehrenkodex meiner Kameraleute umzustürzen. Der Erfolg hat sie schließlich überzeugt. ... Der Künstler muss zunächst einmal in seiner Reaktion auf die Musik gezeigt werden. Ich halte nichts davon, als Regisseur hinzugehen und zu sagen: 'Du musst bei der ersten Strophe die und die Gänge machen, dann musst du dich beim Refrain drehen ...' Das ist mir völlig egal. ... Mir sind Leute, die bei der Sendung ausbrechen und etwas ganz anderes als bei der Probe machen, tausendmal lieber als fügsame Routiniers. ..."
Der Kritiker Eckhart Schmidt: "Mike Leckebuschs BEAT-CLUB ist die einzige regelmäßige Show-Sendung des deutschen Fernsehens, die zu Experimenten mit der heute fast unbegrenzten Technik aufgelegt ist. Leckebusch zieht alle Register der Elektronik ... "
Zum Musikladen heißt es in einem Special von tv-wunschliste: "Die Stars traten in einem recht dunklen Studio auf, das wie ein staubig-gemütlicher Partykeller anmutete ... Insgesamt wirkte die Atmosphäre einer "Musikladen"-Sendung spontan, experimentierfreudig und in späteren Jahren extrem bunt - also irgendwie komplett "undeutsch", vor allem in direktem Vergleich mit "disco" und der "ZDF-Hitparade". Manchmal wirkte es, als hätten sich einige Bands hier einfach für eine improvisierte Jam-Session zusammengefunden." Für mich wirkte der Musikladen in der Anfangszeit fast wie eine Kneipe mit Livemusik. Da lief längst nicht immer alles glatt, da rannte mal einer durch das Kamerabild, die Zuschauer gingen mit oder unterhielten sich lieber beim Bier, die Musiker waren manchmal nicht ganz bei der Sache (Dr. Hook and the Medicine Show) - wirkte alles sehr spontan und deswegen ganz anders als - fast - alle anderen Sendungen in der Glotze.
> Was Leserbriefe angeht, bin ich mir sicher, dass
> die Hauptmotivation, einen Leserbrief zu
> schreiben, in der Regel war, Dampf abzulassen
> über Dinge, die einem im Leben nicht passten.
> Musiksendungen boten sich dafür besonders an,
> denn Musik polarisiert so sehr wie wenig anderes
> (von Volksmusik über Jazz zur Oper), so dass ich
> kritisierende Meinungen zu Musiksendungen nicht
> als Gradmesser dafür nehmen kann, wie innovativ
> ein Sendeformat war.
Es gibt aber darüber hinaus noch haufenweise Zeugnisse/Erinnerungen/Dokumente, die sowohl die Begeisterung der Jugendlichen als auch die Empörung, ja Wut vieler Altvorderen belegen. Die Leserbriefe haben nur den Vorteil, dass sie kurz und bündig in einen Text eingefügt werden können.
Nur ein Beispiel: der Musiker Carl Carlton erzählte in besagter Jubiläumssendung von 2005, dass er als Jugendlicher zu Hause die Beat-Club-Sendung mit dem Küchenmesser in der Hand gegen seine Eltern und Großeltern durchgesetzt hat. "Bin heute nicht mehr stolz darauf. Aber da kannste mal sehen, wie tief das ging!" (so ungefähr)