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"Schlagerchampions" oder: Das Mogelfest der Popmusik?
Am Samstagabend war es wieder so weit: Florian Silbereisen lud zum großen Gipfeltreffen der Schlagerszene. Ursprünglich bereits für Mitte Januar geplant, musste die mehr als dreistündige Eurovisionsshow "Schlagerchampions - Das große Fest der Besten" Corona-bedingt auf Ende Februar verlegt werden. In der jährlichen Sendung sollen traditionell die Schlagerstars des Jahres geehrt werden, die durch besondere Erfolge, originelle Ideen oder neue Trends Maßstäbe gesetzt haben. Bei genauerem Blick auf die aufgetretenen Künstler gibt es jedoch einige Ungereimtheiten und es stellen sich gleich mehrere Fragen. Vorweg: Gerade in Pandemie-Zeiten ist es eine logistische Meisterleistung, eine derart aufwendige Show auf die Beine zu stellen. Nur aus diesem Grund wurde die eigentlich als Live-Show gedachte Sendung über mehrere Tage verteilt voraufgezeichnet. Die Mühen wurden auch wieder mit tollen Einschaltquoten belohnt und die Zuschauer bekamen eine ordentliche Ablenkung vom Alltag geboten (TV Wunschliste berichtete). Umso ärgerlicher ist es, wenn man den eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird. So wurde etwa das Comeback der jüngst wiedervereinten Girlgroup No Angels gefeiert, die im Jahr 2000 als erste "Popstars"-Band Castingshowgeschichte schrieb und mit dem Song "Daylight In Your Eyes" einen Nummer-1-Hit landete. Als großen Höhepunkt zum Schluss hob man sich ihren Auftritt bei Florian Silbereisen auf. Sie präsentierten eine upgedatete Version ihres ersten Hits. Schön und gut - doch was hat das eigentlich mit Schlager zu tun? Offensichtlich wurde die große Showbühne im Ersten als willkommene Möglichkeit genutzt, um für ihren ersten gemeinsamen Auftritt seit der Reunion ein breites Publikum zu erreichen. Ähnlich wurde vor einigen Jahren das Comeback der Kelly Family zelebriert, die daraufhin ein Auftrittsabo erhielten und zu Stammgästen der Feste-Shows wurden - und natürlich ist die Folk-Musik der irischen Sangesfamilie ebenfalls nicht dem Schlager zuzuordnen. Apropos Comeback: Wer erinnert sich noch an LaFee? Die Sängerin, die mit bürgerlichem Namen Christina Klein heißt, wurde Mitte der 2000er Jahre zu einem Teenie-Idol. Mit frechem Görenimage und rockigen Popsongs konnte sie einige Jahre Erfolge feiern. Danach zog sie sich aus der Musik zurück, um vorwiegend als Schauspielerin bei "Alles was zählt" zu arbeiten. Nun ist sie wieder da - mit neuem Look und anderem Musikstil. Sie nutzte die Schlager-Bühne, um ihre deutsche Coverversion des Madonna-Hits "Material Girl" zu präsentieren. Auch darüber hinaus sieht die Besetzung einer typischen Silbereisen-Show mittlerweile gut zur Hälfte wie ein früheres Line-Up von "The Dome" oder der "BRAVO Super Show" aus. Eloy de Jong, ehemals Teil der Boyband Caught in the Act, sowie die beiden Ex-Bro'Sis-Mitglieder Ross Antony und Giovanni Zarrella sind mittlerweile allesamt im Schlager angekommen. Zarrella brachte seinen Buddy Pietro Lombardi mit, der zwar gerne Rapper wäre, aber auffallend häufig im Schlager-Umfeld auftaucht. Gemeinsam sangen sie ihr zweites Duett "Ci Sarai", eine italienisch-deutsche Coverversion des Nena-Hits "Irgendwie, irgendwo, irgendwann". Pietros Ex-Frau Sarah Lombardi, die sich selbst nicht wirklich als Schlagersängerin bezeichnet, war ebenfalls am Start - und wurde gar mit einer Auszeichnung für den Hit des Jahres geehrt. Und Jeanette Biedermann präsentierte "10.000 Fragen", eine deutsche Coverversion des Songs "Soulmate" von Natasha Bedingfield. Doch damit nicht genug: Da sich die ARD in diesem Jahr einen "ESC"-Vorentscheid sowie jegliche Form einer vernünftigen Präsentation des deutschen Beitrags gespart hat, stand unser Vertreter Jendrik Sigwart innerhalb der "Schlagerchampions"-Show zum ersten Mal auf der Bühne, um seinen Song "I Don't Feel Hate" dem Fernsehpublikum zu präsentieren, mit dem er in Rotterdam sein Glück versuchen wird. Mit der Newcomerin Linda und der Österreicherin Hannah waren zwei weitere Sängerinnen zu Gast, die viele TV-Zuschauer vermutlich das erste Mal gesehen haben. Zur Erinnerung: Das Konzept der Sendung "Schlagerchampions" sieht eigentlich vor, dass Künstler geehrt werden, die im vergangenen Jahr Erfolge feiern konnten - und nicht am Beginn ihrer Karriere oder ihres Comebacks stehen. Natürlich waren auch hundertprozentige Schlagerkünstler und waschechte Schlager-Veteranen am Start - doch auch hier gibt es berechtigte Kritik. Schon seit längerer Zeit äußern sowohl Zuschauer als auch die Schlagerszene ihren Unmut darüber, dass in Silbereisen-Shows stets die gleichen Leute auftreten. Und tatsächlich: Namen wie Roland Kaiser, Howard Carpendale (Preis fürs Lebenswerk), Andrea Berg (Tour des Jahres), Thomas Anders (mit Silbereisen Duo des Jahres), Marianne Rosenberg (Comeback des Jahres), DJ Ötzi oder Matthias Reim samt seiner singenden Familienmitglieder scheinen zum unverzichtbaren Inventar einer jeden Feste-Show zu gehören. Das wäre nicht weiter dramatisch, wenn es nicht auch Künstler geben würde, die aus unerfindlichen Gründen einfach gar nicht dort stattfinden. Man mag von der musikalischen Qualität halten, was man möchte, aber Die Amigos und Die Schlagerpiloten verkauften beispielsweise im vergangenen Jahr enorm viele Platten und wären daher prädestiniert dafür, eine Auszeichnung bei den "Schlagerchampions" entgegenzunehmen. Die Verantwortlichen der Silbereisen-Shows laden sie jedoch nicht ein, auch Ireen Sheer, Isabel Varell oder Nicole waren jahrelang nicht mehr dabei - vielleicht, weil diese Interpreten mit ihrem eher altmodischem Stil und ihrer älteren Zielgruppe nicht zur modernen Ausrichtung der Sendung passen? Wäre zumindest eine logische Erklärung, doch es gibt auch andere, jüngere Schlagerkünstler, die im Silbereisen-Universum kaum vorkommen und deren Existenz quasi totgeschwiegen wird - und das, obwohl sie über eine junge Fanbase verfügen, modernen Schlager machen und obendrein Erfolge vorweisen können, also im Prinzip genau das, worauf die ARD eigentlich abzielt. Vanessa Mai zählt etwa zu den populärsten Schlagersängerinnen der jüngeren Zeit und ist gern gesehener Gast in diversen TV-Shows. Doch seit mittlerweile drei Jahren war sie in keiner einzigen Silbereisen-Show mehr zu sehen - und das, obwohl sie zuvor Stammgast war. Der Schweizer Vincent Gross schaffte jüngst mit seinem dritten Album erstmals den Sprung in die Top 10 der deutschen Album-Charts - doch auch ihm wird die große Bühne im Ersten konstant verwehrt. Ella Endlich wird stets nur zum "Adventsfest der 100.000 Lichter" eingeladen, um jährlich ihre Version des Songs "Küss mich, halt mich, lieb mich" aus dem Weihnachtsklassiker "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" zum Besten zu geben - obwohl sie weit mehr Titel im Repertoire hätte. Über die Gründe dieser Entscheidungen ist wenig bekannt - doch Sängerin Melissa Naschenweng machte kürzlich Andeutungen, was hinter den Kulissen so passiert. Die Kärntnerin war 2020 die erfolgreichste österreichische Musikkünstlerin überhaupt - ihr Album "LederHosenRock" schoss auf Platz 1 und erlangte innerhalb von vier Wochen Goldstatus. Darüber hinaus gewann sie den renommierten "Amadeus Award", den wichtigsten österreichischen Musikpreis. Genügend Gründe also, um auch bei Silbereisen als "Schlagerchampion" geehrt zu werden. Doch sie war nicht dabei. Ihr Statement dazu lautete: Meine pinken Lederhosen zieh ich für niemanden aus!Damit spielt sie auf ihr Markenzeichen an, das neben ihrer steirischen Harmonika zu ihrem Bühnen-Outfit gehört. In den wenigen Silbereisen-Shows, in denen Melissa Naschenweng bisher zu Gast war, trug sie jedoch keine pinke Lederhose, sondern ein schwarzes Outfit. Die verantwortliche Produktionsfirma Jürgens TV hat sich in der Sache nicht geäußert, doch offensichtlich gab es Unstimmigkeiten. Auf jeden Kirchtag muss man net tanzen, und dass man sich für nichts und niemanden verbiegen lassen soll, hab ich von meinen Großeltern gelernt, schreibt die Sängerin auf ihrer Facebook-Seite. Die Schlagerwelt scheint also nicht ganz so heil zu sein, wie sie gerne verkauft wird. Die Feste-Shows haben für die Musikindustrie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung: Wer in der Sendung dabei ist, wird von einem Millionenpublikum gesehen und kann sich erfahrungsgemäß nachfolgend über steigende Plattenverkäufe freuen. Die Veröffentlichung neuer Songs oder Alben wird inzwischen den TV-Terminen angepasst. Und während bestimmten Künstlern wie Ben Zucker oder dem letztjährigen "DSDS"-Gewinner Ramon Roselly (Newcomer und Sänger des Jahres) zu einer dauerhaften Präsenz verholfen wird, werden andere (u. a. auch Anita & Alexandra Hofmann, Julian David, Annemarie Eilfeld oder Laura Wilde) konsequent ignoriert und stattdessen durch Acts ersetzt, die dem Schlager eigentlich nicht zuzuordnen sind. Dass es auch anders und toleranter geht, beweisen im Übrigen "Immer wieder sonntags", der "ZDF-Fernsehgarten" oder auch die Schlager-Sendungen im MDR und SWR, in denen sämtliche genannten, in Silbereisen-Shows scheinbar geschassten Künstler auftreten dürfen. 28.02.2021 - Glenn Riedmeier/TV Wunschliste Bild: ARD/JürgensTV/Dominik Beckmann [www.wunschliste.de] In diesem Forum dürfen leider nur registrierte Teilnehmer schreiben.
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