|
Re: Bye Bye "Lindenstraße" - Ein Stück deutscher Fernsehgeschichte endet
Ich finde es sehr schade, dass die Lindenstraße zuende geht, und habe bei der letzten Folge auch einige Tränen verdrückt. Das Argument, es wären zu wenig Zuschauer ist meiner Meinung nach nur vorgeschoben. Alle Sendungen haben Zuschauer verloren als die Privaten kamen, und das Internet, und die Streamingdienste. Im Tagesprogramm sonntags war die Lindenstraße regelmäßig die quotenstärkste Sendung - mit Ausnahmen der Sonntage an denen WM oder EM Spiele gezeigt wurden.
Die Lindenstraße war immer schon unbequenm und immer schon politisch. Früher eher noch mehr als jetzt. Grad als ich die Doku vor der letzten Foöge angesehen habe fiel mir das auf. In den ersten Jahren wurden noch Aktionen von Robin Wood unterstützt, Gung als Kanzlerkanditat ausgerufen, der Gauland beleidigt... das gab es alles schon lange nicht mehr. Und auch früher wurden Figuren neu eingeführt um ein Thema zu beackern, beispielsweise Mary oder Onkel Franz. Und auch einiges was die Zuschauer als "unrealistisch" ansahen war gar nicht so unrealistisch. Beispiel Sunny (die Transexuelle). Was wurde da gejammert, dass die doch gar nicht wie eine Frau aussieht und wie albern das doch ist, als sie versuchte ihren Stil als Frau zu finden. Bei einem Lindenstraßen Event habe ich mich mit einer Gruppe Transsexueller unterhalten, die fanden dass genau das Gegenteil der Fall war. Die fanden, das wurde sehr realistisch gezeigt, wie jemand erst mal den Mut finden muss, dann sich langsam dem anderen Geschlecht zuwendet und am Ende immer noch nicht wie eine Frau aussieht. Die fanden es klasse gemacht, und realistisch. Beispiel Tischlein Klick dich: Ich hab da mal ne Recherche gemacht und festgestellt, dass es so ähnliche Konzepte bereits gibt und die teilweise einige Dutzend Angestellte haben. Aber die Zuschauer jammerten, wie das doch an den Haaren herbeigezogen wäre und nie im Leben 3 Leute unterhalten könnte... Ich finde, die Autoren haben hier ganze Arbeit geleistet, eine Idee zu finden, die relativ unbekannt ist aber trotzdem tragbar. Das Problem war, dass die Zuschauer lieber ihre Klischees bedient haben wollten als die Realität zu sehen. Und was Realität agneht: Dass die Serie versuchte realitätsnah zu sein heißt noch lange nicht, dass sie nur Realität zeigt. Sie war keine Scripted Reality. Und das normale Leben hätte nicht so wirklich viele spannende Geschichten in einer Hausgemeinschaft gehabt. Wenn es nur drum geht, dass Helga die Plätzchen anbrennen lässt oder die Kinder keine Hausaufgaben gemacht haben, das wäre sehr schnell langweilig geworden. Aber gerade die Zwickmühlen - in die eigentlich auch jeder geraten könnte, nur eben nicht in solcher Dichte - das war das Salz in der Suppe. Wenn Hans die Wahl hatte an starken Parkinson Symptomen zu leiden oder sich Hasch zu besorgen (und später selber anzubauen) - das war eine Situation, in der jede Entscheidung, die er getroffen hätte scheiße gewesen wäre. Und die Figuren wurden ständig vor solche Entscheidungen gestellt! Dann gab es das ständige Zankthema mit der Innovation. Wenn die Lindenstraße modernisiert wurde, um auch junge Menschen anzusprechen, dann wurde gemeckert. Aber wenn man das nicht getan hätte wären der Lindenstraße bald die Zuschauer weggestorben, weil nur noch die Alten zugeschaut hätten. Wäre sie noch moderner geworden hätten die einen gejammert, wäre sie so geblieben wie sie war hätten die anderen gejammert, dass sie zu altbacken ist. Man sieht hier ja auch: Dem einen war zu viel Drama, dem anderen war es zu spießig. Aber genau das Drama wurde gebraucht, damit es nicht zu spießig wurde, und die Momente der Spießigkeit/Normalität waren ein wunderbarer Gegenpol zu dem ganzen Drama. Der eine stört sich daran, dass die Figuren zuviel Ballast bekommen, der andere daran, dass neue Figuren eingeführt werden (die etwas von dem Ballast übernehmen können). Was denn nun? Aber sie konnte es nicht allen recht machen. Und ich mochte die Lindenstraße so wie sie war - ich fand die Balance richtig wie man modernisiert hat ohne das Alte auf den Müll zu werfen, wie neue Figuren dazu kamen und wie alte über 34 Jahre dabei blieben. In diversen Lindenstraßen Gruppen hatte ich eher den Eindruck, dass die Zuschauer ziemlich spießig geworden waren und sich auf neue Themen nicht mehr einlassen wollten, vor allem nicht wenn sie nicht klischeehaft erzählt wurden. Auch unter Fans wurde ständig gejammert. Ich hoffe, die sind jetzt alle froh, dass die Lindenstraße abgsetzt ist. Das war wie bei Star Wars - jeder Fan hatte seinen "head canon" - seine Vorstellung wie das alles sein muss und was nicht sein darf, wobei eigentlich nichts wirklich mehr "sein durfte" was die Lindenstraße ausmachte, nämlich kritische Themen, die sonst nie oder höchstens mal in Talkshows mit viel Gequatsche aber nichts dahinter behandelt werden. Bei der Lindenstraße war etwas dahinter - das Schicksal eines oder mehrerer Charaktere, die man lieb gewonnen hatte, und die davon betroffen waren. Man sah die Optionen, die diese Figur hatte und die Auswirkungen, die die Wahl einer der Optionen mit sich brachte. Oder die Schwierigkeiten. Die Themen wurden so inszeniert, dass sie zum Nachdenken anregten. Beispielsweise der hebephile Konstantin, der durch junge Mädchen sexuell erregt wurde, das aber nie leben durfte, und sehr darunter litt. Wo sieht man das Thema mal aus dieser Perspektive? In diesem Forum dürfen leider nur registrierte Teilnehmer schreiben.
|